Nach Oben Nach Oben

Arbeitskreis Dorfgeschichte Dreihausen e.V.
Vereins Logo

 

25 Jahre ADD

Lokalgeschichte erforschen und vermitteln

Aufgaben von Mikrostudien für die Gestaltung der Zukunft 
 
Festvortrag von Prof. Dr. Siegfried Becker zum Jubiläum des Arbeitskreises Dorfgeschichte Dreihausen e. V. am 31. August 2019. 

(Den Festvortrag als PDF-Datei herunter laden!)
 

Lieber Herr Meyer, liebe Frau Fees (Ihnen danke ich für die Korrespondenz zur Vorbereitung dieses Vortrags), liebe Mitglieder, Vorstandsmitglieder und ehemalige Mitglieder des Vorstands, sehr geehrte Frau Newton, verehrte Gäste dieser Jubiläumsveranstaltung! 

Der Arbeitskreis Dorfgeschichte Dreihausen ist nun 25 Jahre alt geworden - Klaus Fees hat ja gerade aus der Insiderperspektive die Anfänge, die Projekte und Planungen des Arbeitskreises geschildert - vielen Dank für diesen eindrucksvollen Parcours durch eine engagierte und produktive Vereinsgeschichte!

Ich kann mich also auf einen Blick von außen auf die Tätigkeit des Arbeitskreises konzentrieren (es bleibt mir als Außenstehendem auch gar nichts anderes übrig). Aber dieser Blick von außen ermöglicht auch eine kritische Distanz, die für jede Wertung notwendig ist, und ich kann daher in dieser Sicht von außen auch eine Wertung wagen, die nicht nur zurückblickend die letzten 25 Jahre resümiert, sondern auch einen Ausblick in die Zukunft richten soll. Dies versuchen ja Historikerinnen und Historiker meist gar nicht, weil sie mit der Geschichte reichlich genug zu tun haben, aber als Kulturwissenschaftler darf ich schon einmal in Gegenwart und Zukunft blicken und fragen, welche Aufgaben einem historisch arbeitenden Verein - und einem lokalgeschichtlich konzipierten zumal! - künftig für die Mitgestaltung von Gesellschaft zukommen können. 


Ich will mit einem Blick in die Geschichte des Arbeitskreises und mit ihrer Wertung beginnen. Vor zwei oder drei Jahrzehnten, also in der Zeit, in der der Arbeitskreis gegründet wurde, sind auch andernorts Vereine entstanden, die sich der Lokalgeschichtsschreibung widmen - es war also ein Bedürfnis vorhanden, sich mit der Vergangenheit des Ortes auseinanderzusetzen, in dem man wohnt, ein Bedürfnis, das ich nachher noch etwas intensiver reflektieren will. Viele dieser Vereine haben Heimatmuseen gegründet, haben versucht, alle Eindrücke und Artefakte einer vergehenden Lebenswelt zu sammeln, zu erhalten, zu präsentieren. Viele waren dabei der Gefahr erlegen, dieses Sammeln ohne Konzept und Struktur, vor allem ohne eine Verortung in überlokalen und überregionalen Bezügen anzugehen. Dieses Sammeln und Präsentieren zur Selbstbestätigung einer lokalen Identität aber wird meist affirmativ bleiben, also bejahend, bewahrend, festhaltend an dem, was vergangen ist oder zu vergehen droht: Ein "Sammeln und Retten", das der älteren Volkskunde (meinem Fach also) gerne vorgeworfen wurde, ohne anzuerkennen, dass es gerade in diesem Fach schon zeitig im frühen 20. Jahrhundert einen intensiven theoretischen Diskurs gab und darin die feine Unterscheidung zur Heimatkunde formuliert wurde - diese wolle bewahren, erhalten, pflegen, wir aber wollten beobachten und verstehen. Zum Beobachten gehört aber, nicht am Vergehenden festhalten zu wollen, sondern das Vergehen zu akzeptieren und die Gründe dafür zu analysieren, und zum Verstehen gehört, sich nicht nur der positiven, der schönen Seiten von Geschichte zu erinnern, sondern zu einer Auseinandersetzung zu finden, die auch mal wehtun darf und wehtun muss, wenn wir begreifen wollen, warum Geschichte so verlaufen ist und nicht anders, und daraus lernen wollen für eine bessere Gestaltung der Zukunft. Heimatkunde und Heimatmuseum entbehren oft einer Aufgabe der gewichtenden, strukturierenden Auseinandersetzung mit Geschichte, eines Erklärens von Geschichte, das auch provozieren darf und damit lebendig und anpassungsfähig bleibt für neue Herausforderungen.  


Dieser Gefahr des affirmativen breiten Sammelns lokaler Altertümer war der Arbeitskreis Dorfgeschichte Dreihausen von Anbeginn an nicht erlegen. Er hatte kluge Beraterinnen und Berater, die richtige und wichtige Akzente zu setzen wussten, die Wert darauflegten, sich auf Besonderheiten der Lokalgeschichte zu konzentrieren (auf Alleinstellungsmerkmale, würde man heute sagen), auf die Geschichte der Höfe, auf das Dreihäuser Steinzeug, auf den Basaltabbau, auf den Kirchenkampf. Er hat dazu Forschungen durchgeführt und durchführen lassen, deren Ergebnisse dann auch im Ort vermittelt werden konnten, in Publikationen zugänglich gemacht und schließlich, als der Ausstellungsraum im Wenze Ställche geschaffen war, auch in Präsentationen gezeigt werden konnten - kein Heimatmuseum also, sondern ein Vermittlungsort, konzipiert für Wechsel- und Sonderausstellungen und damit schon im Stadium des Entstehens als lebendige Bühne der Auseinandersetzung mit Dorfgeschichte geplant. Auch da, wo klassische Ausstellungsthemen eines Heimatmuseums angesprochen werden (mit der Tracht etwa), geht der Arbeitskreis eigene Wege, bestätigt nicht eingefahrene Geleise der Sicht auf Tracht, sondern nimmt mit Sterben und Tod auf dem Lande ein ganz zentrales, für Kultur und Sozialgeschichte unserer Dörfer im Wortsinn existenzielles Thema auf, das sonst aber allzu oft fast als Tabuthema behandelt wird und schon seit Jahrzehnten mit der zunehmenden Delegation an medizinische und geriatrische Institutionen aus dem Blickfeld gerät (ich empfehle dazu das lesenswerte Buch von Werner Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft).  
 

Und ich will den Blick wieder zurückwenden in die Geschichte: Wenn wir Zukunft gestalten wollen, dann können, ja dürfen wir dies nicht, ohne Geschichte verstanden, die Lehren aus der Geschichte gezogen zu haben. Wie hat es der dänische Philosoph Sören Kierkegaard einmal so schön formuliert: Das Leben müssen wir vorwärts leben, verstehen können wir es aber nur im Zurückblicken. Dieses Verstehen aus dem Zurückblicken wird uns leichter fallen, wenn wir es mit der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt verknüpfen: Dass scheinbar Nahe, Vertraute, Bekannte offenbart uns in seinen Brüchen, Verwerfungen, Irritationen auch die Strukturen, Ursachen und Wirkungen der großen Geschichte. Das ist das große Potenzial der Lokalgeschichte, die uns näher an die Quellen, an die Lebensbedingungen, an die Menschen in der Vergangenheit heranführt, als es die Strukturgeschichte kann. In der Geschichte unserer Dörfer spiegelt sich gewissermaßen die große Geschichte im Kleinen wider, und so erleichtert uns eine solche Geschichte im Kleinen mit ihrem Blick aufs Nahe, aufs scheinbar Vertraute, auch das Verstehen der großen Geschichte, der Landesgeschichte, der deutschen Geschichte, aber auch von Aspekten der europäischen Geschichte. 
 

Mit den Höfen haben wir in der Gemarkung Dreihausen Spuren der Geschichte, die vor die Zeit der schriftlichen Überlieferung zurückweisen. Sie sind sorgfältig archäologisch erschlossen und dokumentiert worden, und der Arbeitskreis, der sich sehr engagiert dafür eingesetzt hat, über Vorträge, Veröffentlichungen und Führungen eine breitere Öffentlichkeit über dieses bedeutende Bodendenkmal informieren und dafür begeistern konnte, hat damit nicht nur die weite Spanne der lokalen Geschichte aufgezeigt, sondern macht zugleich deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte eine interdisziplinäre Aufgabe ist, dass Zusammenarbeit, Austausch und Diskurs nötig sind, um Geschichte verstehen zu können. Auch diese Aufgabe beginnt also bereits in der Beschäftigung mit Lokalgeschichte, und die Höfe zeigen zugleich eindrucksvoll, dass schon diese frühe Spur der lokalen Geschichte weit über das Lokale hinausweist, Lokalgeschichte also immer in die Zusammenhänge größerer Strukturen eingebunden ist und darin gesehen und interpretiert werden muss - bis hin zum Kirchenkampf der jüngeren Geschichte, der ebenfalls nur in den großen Zusammenhängen der Landes- und Kirchengeschichte verstanden werden kann. Lokalgeschichtsschreibung wird sich also nie mit dem Lokalen alleine begnügen können - sie muss eingebunden werden in größere Kontexte (sie muss kontextualisiert werden, wie wir so schön sagen). Das macht es nicht leichter, aber es macht zugleich deutlich, dass gerade die Lokalgeschichte dazu beitragen kann, die große Geschichte zu verstehen und zu vermitteln. 


Es sind gerade diese Chancen, am konkreten, überschaubaren Beispiel der Lokalgeschichte die komplexen Dimensionen der großen Geschichte erklären und verstehen zu können, die eine Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte heute unverzichtbar machen. Wir erleben heute, dass scheinbar fest gefügte Grundwerte der Demokratie infrage gestellt, populistisch gedehnt und instrumentalisiert werden, und dies keineswegs nur im nationalen oder europäischen Kontext, sondern in der global agierenden Politik. In einer Zeit, in der nicht nur in jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas, sondern selbst in den alten Demokratien der Welt parlamentarische Systeme es immer öfter nicht schaffen, Willkür und Ignoranz ihrer Repräsentanten zu zügeln, begreifen wir, wie wichtig es ist, Demokratie als gelebte Verantwortung an der Basis zu stärken. Dazu gehören auch gründliche Kenntnis und Reflexion von Geschichte. Umso mehr wird sich Lokalgeschichte der Aufgabe und Verantwortung stellen müssen, auf die Errungenschaften, aber auch auf die Gefährdungen unserer Demokratie aufmerksam zu machen, und die Anknüpfungspunkte dafür sind vielfältig. 


Ich muss dafür nur an die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts erinnern, an die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, die in unseren Dörfern mit der sorgfältigen Studie von Annamaria Junge zu Rauisch-Holzhausen und mit dem Schülerprojekt der Gesamtschule Ebsdorfergrund zu den Sinti-Kindern in Dreihausen zwei vorbildliche Beispiele für eine Spurensuche vor Ort vorzuweisen hat. Ich erinnere an die Integration von Flüchtlingen nach 1945, aber auch an die Gebietsreform, die ja nicht nur auf Landesebene ein Zusammenwachsen heterogener historischer Strukturen, unterschiedlicher Erinnerungen und Identitäten erforderlich machte, sondern mit der Entstehung der Gemeinde Ebsdorfergrund eine größere kommunale Einheit und damit eine Aufgabe schuf, die politische Förderung eines Landesbewusstseins dort und eines Kommunalbewusstseins hier umzusetzen. Wenn wir heute den Eindruck haben, dass die Gräben und Konflikte in der Gesellschaft tiefer und größer werden, das Gefühl, nicht verstanden, politisch vertreten und abgehängt zu werden, wächst, dann müssen wir auch darüber nachdenken und daran erinnern, welche gewaltigen Aufgaben der Integration in der Vergangenheit bewältigt wurden. 
 

Wie konnten diese Aufgaben geleistet werden? Wie bei der Integration der Flüchtlinge, aber auch der verschiedenen Landesteile unterschiedlicher territorialer und staatlicher Herkunft im Bundesland Hessen nach 1945 musste mit der hessischen Gebietsreform 1974 für die in den neuen Großgemeinden zusammengeschlossenen Orte ein kommunales Bewusstsein erst entwickelt und gefunden werden: Verträge werden mit einem Federstrich unterzeichnet, aber bis zusammenwächst, was zusammengehören soll, vergeht oft viel Zeit. 
 

Integration ist erfolgreich über die konsensfähige Bewältigung aktueller und künftiger politischer Aufgaben, aber dies ist nicht alles. Für die Herausbildung eines Kommunalbewusstseins spielt immer auch der Rückblick auf die Geschichte eine Rolle, eine Vergewisserung des Herkommens, die jedoch keineswegs nur eine affirmative Überlieferung der Erinnerungen, der anekdotischen Unterhaltung sein und bleiben darf, sondern sich immer auch kritisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen muss, um aus der Geschichte zu lernen – eine Aufgabe, die uns gerade heute wieder bewusst wird, wo Geschichtsklitterung und affirmative Berufung auf vermeintliche Heimatwerte wieder bis in die Parlamente von Bund und Ländern Einzug halten. 
  
Integration funktioniert, das sollten wir nicht gering schätzen, auch, vielleicht sogar vor allem, über das gemeinsame Feiern (Georg August Zinn hat daher nicht ohne Grund den Hessentag ins Leben gerufen). Anlässe zu feiern – und sie zu nutzen, um in die Geschichte unserer Dörfer zurückzublicken – haben wir immer wieder – mit den Ortsjubiläen etwa, und hier kommen dann in der Regel auch die Geschichtsvereine wieder ins Spiel; ob diese Anlässe genutzt werden, liegt an den Ortsteilen, ihren Ortsbeiräten, Bürgerinnen und Bürgern, die darüber entscheiden müssen, ob und wie sie Jubiläen der ersten Erwähnungen ihrer Dörfer begehen wollen. Dreihausen hat seine 850-Jahrfeier begangen, und der Arbeitskreis hat dazu das schöne Buch „In Dreihausen steht die Zeit nicht still“ vorgelegt. 
 

Bei seiner Erstellung werden sich die Autorinnen und Autoren gefragt haben: Was können wir schreiben? Und wie stellen wir es dar? Geschichte ist immer Konstruktion von Erinnerung – weil wir sie nie ganz, sondern nur in kleinen Ausschnitten abbilden können, müssen wir auswählen, hervorheben, weglassen, interpretieren. Geschichtsschreibung steht daher immer in aktuellen Kontexten – das, was uns heute an der Geschichte wichtig erscheint, wird aufgeschrieben. Dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Hessen so viele Ortsjubiläen gefeiert wurden und so viele Ortschroniken geschrieben wurden, hat nicht nur mit einer Häufung von Ersterwähnungen zu tun. Denn Jubiläumsfeiern können zwar in zeitlicher Nähe zueinander liegen, doch zwischen den Ersterwähnungsurkunden, auf die sich die Veranstaltungen berufen, können Jahrhunderte liegen. Oder die Jubiläen beziehen sich auf dieselben oder doch in ihrer Provenienz zusammenhängende Quellen. Es sind also zufällige Gründe, die zur Häufung der Anlässe für Ortsjubiläen führen. 


Nicht zufällig ist, dass all diese ehemals selbstständigen Dörfer in der hessischen Gebietsreform 1974 zu größeren Gemeinden zusammengefasst wurden. Damit sind Grenzen, die einmal Kirchturm, Dorf und Gemarkung umgaben, im politisch-administrativen Alltag weniger wichtig geworden – doch sie sind nicht verschwunden. Das zeigen uns die vielen Grenzgänge, die zu den Jubiläumsfeiern oder auch alljährlich in den Dörfern stattfinden, Grenzgänge, in denen diese alten Gemarkungsgrenzen abgeschritten werden, in denen also auch eine Identität der Orte beschrieben wird, die an die Zeit vor der Gebietsreform erinnert. Wie die Grenzgänge zu den Ortsjubiläen sind auch Ortschroniken wie das Dreihäuser Buch Vergewisserungen einer eigenen kommunalen Geschichte, eine historische Legitimation gegenwärtigen Zusammenlebens – eine Vergegenwärtigung der Vergangenheit ehemals selbstständiger Gemeinden. Das Schreiben lokaler Geschichte und die Gründung von Vereinen in den 80er und 90er Jahren hat also möglicherweise auch etwas mit der Gebietsreform zu tun – es ist vielleicht eine späte Antwort darauf, ein Widerhall, wie es vor einiger Zeit die Rückkehr der großgeschriebenen Ortsnamen auf den Ortsschildern oder jüngst die Rückkehr der alten Kfz-Kennzeichen war. Andreas Bimmer hat bereits 1984 in einem Abriss zu neuen Aufgaben volkskundlicher Regionalforschung in Hessen nach der Gebietsreform aufmerksam gemacht auf die nach der Reform oft gesteigerten Binnenaktivitäten in den Ortsteilen in Form von Ortsteilfesten und Straßenfesten, in denen sich eine bewusste und offene Abgrenzung gegenüber der Hauptgemeinde manifestierte. Vor allem Vereine wurden in den Ortsteilen zu Trägern der Identitätsbildung und -tradierung, und die Teilnahme an den überregionalen Wettbewerben „Unser Dorf soll schöner werden“ trug nicht selten Züge einer ostentativen Demonstration kommunalen Eigensinns. 


Es verwundert daher nicht, dass in den späten siebziger und Achtzigerjahren ein Begriff wieder neu diskutiert wurde, der längst als verstaubt, belastet, abgelegt galt, und der schließlich mit der Filmreihe von Edgar Reitz nicht nur im intellektuellen Diskurs, sondern auch in einer breiten Öffentlichkeit wieder platziert werden konnte: „Heimat“. Neu diskutiert wurde er, weil die kritische Reflexion der deutschen Geschichte ihn dekonstruiert, ihn seiner Inanspruchnahme für politische Indoktrination im deutschen Nationalismus und Faschismus überführt, aber auch die Fluchtwelten der Unterhaltungsfilme nach 1945 (den deutschen Heimatfilm) hinterfragt hatte. 
 

Und nun wurden in einer Gesellschaft, die sich modern, aufgeklärt, weltoffen gab, Region und Gemeinde wieder wichtig – und es musste das Verständnis dafür wachsen, dass das Bedürfnis nach Heimat als Antwort auf Fremderfahrungen entsteht, auf Zerrissenheitsgefühle im Ineinandergreifen von Alltäglichkeit und Außeralltäglichkeit in einer sich rasch modernisierenden Gesellschaft. Mit dieser neuen Wahrnehmung einer psychologischen Bedeutung von Heimat in gesellschafts- und kulturwissenschaftlichen Diskursen setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass es „die Heimat“ nicht gibt, sondern Heimat immer eine Bezugsgröße der individuellen Erinnerung ist, an der wir Verlusterfahrungen messen – jene Nähe, die erst aus den Erfahrungen der Ferne, der Fremde, der Entfremdung gesucht und geschaffen wird. Ulrike Hass hat dies einmal schön formuliert in dem Titel „Die Heimat flieht, wir hinterher“ und damit das Gefühl der Ungeborgenheit angesprochen, das nie erfüllt werden kann, solange eine Sehnsucht nach Vertrautheit und Nähe bleibt und nicht durch tätige Aneignung gestillt werden kann. Darum konnte auch die Unzufriedenheit über den Verlust kommunaler Eigenständigkeit nie ganz nivelliert werden, denn die Erfahrung einer Aufhebung von Grenzen der überschaubaren Welt setzte sich fort in einer immer stärker vernetzten Welt ökonomischer Strukturen, aber auch einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, in der die regionalen und lokalen Bezugsgrößen, die Heimatinszenierungen, wieder zur Kompensation dienen konnten. In diese Heimatinszenierungen werden sich auch künftig die Ortsjubiläen und Ortschroniken einfügen, sie sind Vergewisserungen eines lokalen Horizonts, der noch immer in den Ortsteilen, in den Dörfern und nicht in der Großgemeinde beschrieben wird.  
  
Diese notwendige kritische Perspektive auf das Heimatbuch soll den Wert der Ortschroniken keineswegs schmälern. Heimatbücher ermöglichen, gerade auch in der Kooperation zwischen wissenschaftlicher, insbesondere landesgeschichtlicher und volkskundlicher Forschung und den engagierten Autorinnen und Autoren vor Ort, eine enge Verknüpfung von ortskundigen und methodisch-sachkundigen Kompetenzen, und sie erlauben zudem der Forschung, in der Auswertung der dichten Quellenüberlieferung auf der untersten administrativen Ebene wissenschaftliche Theorien zu überprüfen. Heimatbücher aus der Feder eines einzelnen Autors, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren noch häufig waren und meist von Lehrern oder Pfarrern im Ruhestand geschrieben wurden, sind in den letzten Jahrzehnten selten geworden – heute geht die Initiative zur Erarbeitung von Ortschroniken meist von mehreren Personen aus, meist gebündelt über die politischen Vertreterinnen und Vertreter der Ortsteile. Dahinter steht in der Regel der Wunsch, ein gehaltvolles und repräsentatives Buch zu erstellen, das gemeinsam erarbeitet werden, damit auch integrativ wirken und die Identifikation mit dem Ort fördern soll. Auch damit setzt das Heimatbuch Strategien der lokalen Identitätsbildung nach 1974 fort. 
 

So hat Gisela Riescher 1988 in ihrer politikwissenschaftlichen Untersuchung zu den Reaktionen auf die Kommunalreform in Bayern aufzeigen können, dass die zahlreichen Protestformen, die oft mit radikaler Hartnäckigkeit geführte Verteidigung der lokalen politischen Gemeinwesen, keineswegs mit demokratischen Defiziten der Reform erklärt und demokratietheoretischen Folgeproblemen zugewiesen werden konnte, wie es in der politikwissenschaftlichen Literatur bis dahin versucht wurde. Im Gegenteil: Wir erkennen, wie wichtig eine Ortsbezogenheit und ein Engagement im Ort für das Bekenntnis zur Demokratie ist. Riescher konstatierte daher die große Bedeutung psychischer Ortsbezogenheit und den kommunalen Raum als Ort sozialer wie individueller Identitätsfindung, der von den politischen Instanzen mit Umsicht und Weitsicht berücksichtigt werden müsse: Kommunalpolitik bedarf daher gerade in den seit der Gebietsreform größer gewordenen, aber auch fraktionierteren Gemeinden einer ständigen Reflexion der Einbindung, der Wechselbeziehung von Inklusion und Exklusion, um ortsteilspezifisches Denken und Handeln integrieren zu können - in solchen Prozessen des Aushandelns aber wird demokratisches Bewusstsein an der Basis gelebt und internalisiert.  
 

Zu dieser Einbindung gehört die Wahrnehmung und Förderung lokalgeschichtlicher Projekte durch die Großgemeinde (dies funktioniert ja, wie ich vom Bürgermeister der Sonnenscheingemeinde weiß, hier auch gut). Aber auch seitens der Vereine können ja Anregungen und Ideen eingebracht werden, um das Arbeiten an und das Lernen aus der Geschichte in Projekte der Großgemeinde zu integrieren.   
  
Es sind ja ortsteilübergreifende Themen denkbar und notwendig, die zwar von den wenigen Leuten in den kleinen Vereinen nur mühsam angepackt werden könnten, für die aber Anregung, Koordination und Moderation etwa vom Arbeitskreis ausgehen könnte. Sollten nicht die großen Themen der Zeitgeschichte weiter aufgearbeitet werden, die Verhandlungen zur Gebietsreform etwa? Es wäre interessant, den Auswirkungen gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche in den sozialstrukturell so unterschiedlichen Dörfern nachzugehen, den Auswirkungen der Massenverelendung im Vormärz vor der Revolution 1848, den Auswirkungen der Wirtschaftskrise in der Weimarer Republik und ihrem Niederschlag in den Wahlergebnissen zur Zeit der Präsidialkabinette, den Entscheidungen, Fanatisierungen und Verweigerungen im Nationalsozialismus; die Aktenüberlieferung aus der NS-Zeit, insbesondere die für die Lokalgeschichte gehaltvollen Spruchkammerakten, werden jetzt nach und nach zugänglich. Ist es nicht an der Zeit, das Erinnern an den Holocaust nach 1945 (und auch das Vergessen!) in den Dörfern der Gemeinde Ebsdorfergrund gründlich zu recherchieren und zu dokumentieren?  


Ein Thema mit aktuellem politischen Bezug und lokalgeschichtlichen Wurzeln will ich als Beispiel ansprechen. Mit der Pegida-Bewegung wurde eine Forderung laut vorgetragen, die den Weg in eine junge Partei und hierüber in Kommunal- und Länderparlamente fand. Wer sich mit der Geschichte befasst, wird ein Deja-vu erfahren haben und die Notwendigkeit erkennen, die historischen Hintergründe und die Folgen dieser Forderung zu vermitteln. Welche Forderung meine ich? 1883 begann nach dem Prozess gegen den Roßberger Bauern Hedderich, der ein jüdisches Ehepaar aus Nordeck erschlagen haben sollte, der politische Aufstieg Otto Böckels, der 1887 im Wahlkreis Marburg-Kirchhain-Frankenberg als erster antisemitischer Abgeordneter in den Reichstag gewählt wurde. In seiner Hetzschrift „Die Juden, die Könige unserer Zeit“ formulierte er: „Deutschland den Deutschen, das ist die Parole des Antisemitismus“. Es macht mir Angst, wenn der erste Teil dieser Parole heute wieder gerufen wird in der Absicht, Menschen auszugrenzen, auszuweisen, zu entrechten. 


Es wäre daher wichtig, den Spuren der vielen, vielen Zugewanderten nachzugehen, die über die Jahrhunderte hin in unsere Dörfer kamen, als Händler, Handwerker, Glaubensflüchtlinge, als Ost- und Zwangsarbeiter. Viele unserer Vorfahren waren Flüchtlinge, Zugewanderte, Arbeitsmigranten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste in den Dörfern der heutigen Gemeinde Ebsdorfergrund wie in fast allen hessischen Dörfern eine große Zahl an Menschen integriert werden, was auch zu einer konfessionellen Differenzierung beitrug – die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen, aber auch die Konflikte, Notsituationen und Überlebensstrategien sollten einmal aufgeschrieben werden. Nicht erst mit der Zuwanderung seit der EU-Osterweiterung erfuhren viele Dörfer eine erhebliche Ausweitung ihrer Siedlungsstruktur. All den vielen Menschen, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten hierher gekommen sind und sich hier niedergelassen haben, können und sollten wir auch die Möglichkeit geben, sich mit ihren Wohnorten und ihrer Geschichte zu beschäftigen. 


Damit komme ich zu Überlegungen für die weitere Erarbeitung und die künftige Vermittlung der Lokalgeschichte. Wenn beides erfolgreich sein soll, wenn wir jüngeren Generationen Zugänge zur Geschichte erleichtern und ermöglichen wollen, dann müssen wir ihre Vermittlung den neuen Rezeptionsgewohnheiten anpassen. Junge Leute lesen sich – leider! – nicht mehr durch dicke Bücher. Sie sind geübt darin (konditioniert, könnte man sagen), auf Suchanfragen prompt und knapp informiert zu werden. Die Generation Google tippt Begriffe ein und erwartet Antwort und Auskunft, und diese Antworten und Auskünfte müssen wir bereitstellen. 


Ich will hier nicht problematisieren, dass damit auch Nachteile verbunden sind, dass Fähigkeiten zum Kontextualisieren, zum Hinterfragen und Einordnen verloren gehen können, und ich will die neuen Rezeptionsgewohnheiten in audiovisuellen Medien auch keineswegs pessimistisch sehen, zumal sie sich eh nicht ändern lassen. Wir müssen, wenn wir weiter Geschichte vermitteln, dafür Interesse wecken wollen, die Geschichte such- und findbar aufbereiten. Die Anfänge dazu sind gemacht. Der Arbeitskreis pflegt eine vorbildliche Homepage, die sehr viele Informationen enthält, aber auch ausbaufähig ist für eine Moderation der Vermittlung von Geschichte im Ebsdorfergrund, etwa in Form einer Bereitstellung kleiner Artikel zu unterschiedlichen Themen (wie sie in den zahlreichen Vorträgen, die im Arbeitskreis ja gehalten und damit bereits vermittelt wurden, aber nicht abrufbar sind). Dies sollte seitens der lokalgeschichtlich arbeitenden Vereine an die Gemeinde herangetragen werden, die in der Darstellung ihrer Geschichte noch Nachholbedarf hat. Was möglich ist, lässt sich etwa auf der Seite Lohra-Wicki des Geschichtsvereins Lohra nachsehen, die alle Ortsteile der heutigen Gemeinde erfasst. Dies ist für eine Außenwirkung des Arbeitskreises – und auch der Gemeinde – sinnvoll. 
 

Was aber kann für die Arbeit im Verein selbst getan werden? Es wird in vielen Geschichtsvereinen, die ja allesamt Erfahrungen des nachlassenden Interesses machen, immer wieder einmal die Frage gestellt: Wer macht mit, wie können wir Menschen begeistern für Fragen an die Geschichte? Und wie können wir Bürgerinnen und Bürger aus jenen Ortsteilen der Großgemeinde motivieren, in denen noch kein Verein, kein Arbeitskreis für Lokalgeschichte besteht? Es gibt dafür eine seit uralter Zeit (und die Sprache verrät dies bereits) – eine seit uralter Zeit bewährte Weisheit: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg gehen. Der Arbeitskreis ist auch hier vorangegangen, hat Wanderungen („Geschichte zu Fuß“) und Führungen (zu den Höfen etwa) angeboten. Warum nicht auch einmal die Höfe und Häuser im Dorf (und in Absprache mit Ortsvorstehern und Ortsbeiräten auch in anderen Dörfern) besuchen, also Dorfspaziergänge anbieten, ein Format, bei dem ich vielerorts – etwa in Kehna, in Seelbach, in Altenvers – die Erfahrung gemacht habe, dass viele Menschen dankbar sind, wenn sie auf Spuren der Geschichte in ihren Orten, an ihren Häusern und Höfen aufmerksam gemacht werden und sich Zusammenhänge erschließen können. 
 

Der Arbeitskreis ist nun 25 Jahre alt geworden. Das ist ein jugendliches Alter – das beste Alter überhaupt! Wer möchte nicht gerne noch mal 25 sein! Und die Aufgaben sind längst noch nicht erschöpft, nein, sie wachsen immer weiter an! Packen wir‘s also in jugendlicher Frische an und arbeiten weiter an der und für die Geschichte Dreihausens und unserer Dörfer im Ebsdorfer Grund! 

 

Start | Dreihausen | 850 Jahre | Verein | Mitglied | Bücher | Museum | Steinzeug | Höfe | Fachwerk | Hessenpark | Links | Presse | Impressum | Datenschutz | Kontakt